Der Brief kam endlich! Per Post. Ich hatte ebenso postalisch um ein Interview gebeten, und jetzt hatte ich den Termin. Ein Interview mit Prof. Dr. Peter Ludwig, und dies nicht irgendwo, sondern im Museum Ludwig, in Köln.
Der Weg dahin schien mir enorm lang… Ich nahm die 18 von der Luxemburger Straße und stieg am Hauptbahnhof aus. Von dort waren es nur noch ein paar Meter. Ich konnte das Museum schon sehen. Der eisige Wind schnitt wie ein Rasiermesser in mein Gesicht, sehr kalt, aber sonnig war das Wetter an diesem Februarmorgen. Besonders heftig blies der Wind, als ich am Kölner Dom vorbeiging. Die Aufregung verwandelte die letzten Meter in einen großen Sprung und voilà, schon öffnete ich die Museumstür.
Zur Information brauchte ich gar nicht zu gehen, er war schon da und lächelte mich ermutigend an. Das „Guuten Moorgen“ kam lauter als ich wollte aus meinem Mund und ich streckte meine erfrorenen Finger nach vorn. Er nahm sie schnell in seine Hand und meine Aufregung verwandelte sich in ein Hochgefühl, mit dem ich ihm voller Adrenalin folgte.
Grauer Anzug, leichter Duft, strahlendes Gesicht und große Schritte, das ist der Moment, der bis heute unverändert in meinem Gedächtnis geblieben ist. Wir gingen in sein Büro. Nein, ein kleines Museum war das. An den Wänden hingen Kunstwerke, die ich nie von so nah betrachten durfte. Mein Herz begann lauter zu schlagen, schneller und schneller. „Mathis, Picasso“, sprachen leise meine Lippen. Er ließ mich den Moment genießen.
„Prof. Ludwig, Sie sind einer der größten Picasso-Sammler der Welt…“,
begann ich das Interview. All meine Fragen, längst gespeichert in meinem Kopf, hatte er beantwortet. Es ging mir um alles. Picasso, die Kunst, sein Unternehmen, seine Familie und natürlich sein Interesse an der bulgarischen Kunst. Schon in den vergangenen, sozialistischen Jahren hatte Prof. Ludwig die Kunst der unbekannten Bulgaren gekauft und gesammelt. Einen Katalog mit dieser Kunst durfte ich auch haben… „Besser geht’s nicht!“, dachte ich und stellte mir schon den Titel in der bulgarischen Zeitung Kultur vor.
Als alle meine Fragen beantwortet waren, schaute mir Prof. Ludwig offen in die Augen und fragte: „Und Sie, junge Frau, wie sieht Ihre Zukunft aus? Wie geht es jetzt weiter mit Ihnen in Deutschland?“
Eine ganz normale, ja Smalltalk-Frage, war das, aber sie berührte genau den Teil meines Gehirns, der diese Antwort nicht kannte. „Ich weiß es nicht“, antwortete ich ehrlich. Gesenkter Blick, leise Stimme, das war in diesem Moment von der selbstbewussten bulgarischen Journalistin geblieben. Ich konnte damals locker Fragen stellen, aber meine eigene Zukunftsperspektive war für mich ein unbekanntes Territorium.
„Warum?“, hakte der Professor noch nach.
Aus heutiger Sicht weiß ich natürlich, warum.
Ich hatte Angst mich zu verändern.
In Deutschland hatte ich zwar innerhalb eines Jahres die Sprache erlernt, sodass ich Interviews führen konnte. Ich konnte diese Interviews dann auf Bulgarisch schreiben und in den größten bulgarischen Zeitungen publizieren. Tief in mir wusste ich aber, dass dies nicht der Grund meiner Ausreise aus Bulgarien gewesen war. Ich hatte etwas Anderes in Deutschland gesucht, aber was?
Die Frage des Professors war der Auslöser des existenziellen Gedankens, mit dem sich jeder Mensch, egal ob in meiner Situation oder nicht, früher oder später auseinandersetzen muss. „Wie sieht deine Zukunft aus?“, fragten uns unsere Eltern, und genauso fragen wir unsere Kinder… „Que Sera, sera“ hätte ich leichthin sagen können, aber das habe ich nicht getan. Stattdessen überkam mich ein mulmiges Gefühl, eine Mischung aus viel Wollen aber nicht können, nicht wissen…
Seitdem sind viele Jahre vergangen, und ich schmunzele über diese Frage von einst, aber nicht nur. Ich bin dem Professor und seiner Frage sehr dankbar. Er hatte damit seinen Finger in eine Wunde gelegt, deren Existenz ich lange ignorierte. Aber genau diese Angst um die Zukunft ist das Gefühl, das uns endlich aus einer vermeintlichen Komfortzone hinausdrängt. Diese Komfortzone ist warm und bequem, hat aber meist nicht dauerhaft Bestand. Und manchmal, wenn wir so richtig gemütlich drinsitzen, schleicht sich bereits das Gefühl ein, das sei zwar alles schön und gut, könne aber doch wohl nicht alles sein. Die Komfortzone lähmt langsam unsere Gedanken, lässt den Kitzel und die Neugier verschwinden und verändert sogar unsere Gesichtszüge. Die Routine, die sicheren Bewegungen in einem bekannten Terrain, all das verhindert jeden Gedanken an eine weitere Entwicklung und lassen uns weiter und weiter den Stillzustand genießen. Und dann fragt plötzlich einer nach unserer Zukunft! Eine simple Frage, die uns plötzlich aus der Fassung bringt, obwohl es uns doch gerade ganz gut ging. „Aber warum?“, lautete die Frage des Professors nach meinem „Ich weiß es nicht!“ Dazu kam noch die gnadenlose Feststellung: „Das ist keine Zukunftsperspektive!“
„Warum! Warum?“ ist keine einfache Frage.
„Warum?“ ist in so einer Situation ein Geschwindigkeitsgenerator, der dich aus dem Unbekannten herauskatapultieren kann. Und wenn dir jemand die Frage nach deiner Zukunft stellt und dich dann weiter fragt „Warum?“, musst du ihm dafür dankbar sein.
Das bin ich auch.
Was passiert mit den Menschen danach?
Einige nehmen die Frage „Warum?“ an und meinen es ehrlich mit sich. Die Frage kann zu entscheidenden Schritten und der Ansage treiben: „Bye, bye Komfortzone! Ich will mehr! Ich will etwas Anderes!“ Oft schwelten die Gedanken an eine Veränderung schon längst in uns, nur die Entschlossenheit zur Entscheidung fehlte. Dieses „Warum?“ ist hier der erste Schritt zur Entscheidung. Der Zweite ist das Handeln. Man handelt aus Lust und Neugier an der Zukunft. Wer Zukunft will, muss handeln. Für die Frage „Wie?“ ist hier kaum Raum, du musst nur all diese Gedanken, die du schon längst in dir trägst, umsetzen.
Ich habe in diesem Fall das Instrument „Warum?“ gebraucht.
Ich verließ das Museum und wandte mich zurück zum Bahnhof. Doch meine Schritte wurden langsamer, schwerer von den Gedanken in meinem Kopf. Plötzlich änderte ich die Richtung und ging zum Neumarkt. Ich wusste, dort stand ein Visitenkartenautomat. Und mit diesem produzierte ich spontan meine ersten Visitenkarten. Für einen Beruf, den ich noch nicht hatte.
Was ich darauf schrieb? Ich fragte mich einfach: Was kann ich noch? Auf die Karte schrieb ich die Antwort: Übersetzen. Und dann die Sprachen, die ich in meinem ersten Studium gelernt hatte: Bulgarisch, Russisch, Serbokroatisch. Erstmal eine unbequeme Zone, würde ich sagen, denn ich musste diese Sprachen danach im juristischen Bereich perfektionieren und mich damit vermarkten.
Wenn du denkst, unbequem ist stressig, vergiss es!
Wenn du aber neugierig und gut drauf bist, merkst du, wie aufregend du in der Veränderung lebst, und du beginnst sie zu lieben. Veränderung ist Leben und das Leben fühlt sich toll an, wenn wir es selbst gestalten.
Ich verändere mich noch immer jeden Tag, und wenn ich unsicher bin, höre ich wieder und wieder die Frage von Professor Ludwig: „Warum?“
Diese Frage stelle ich auch dir. Denn „Warum?“ ist nicht nur eine Frage. Es ist ein Geschwindigkeitsgenerator, der das Leben interessant und schön macht.