Besonders in Krisenzeiten brauchen wir die Kunden, die regelmäßig zu uns kommen. Es ist leicht, das Wort Stammkunde auszusprechen, aber wie wird ein Kunde zum Stammkunden? Gibt es überhaupt ein branchenübergreifendes Rezept zu diesem Thema?
Aus der Zeit, als ich die Kunden noch selbst bediente, ist mir eine Geschichte im Gedächtnis geblieben, über die ich heute lachen kann. Meine Kundin war unzufrieden mit meiner Leistung, und ich versuchte sie zu überzeugen, dass mein Produkt – in diesem Fall die Übersetzung aus dem Russischen ins Deutsche – korrekt sei. Die Kundin aber protestierte und verlangte Korrekturen nach ihrem Gusto, die meines Erachtens aber nicht machbar waren. Schließlich öffnete ich die Kasse, gab ihr das Geld zurück und warf die ganze beglaubigte Übersetzung in den Mülleimer. Mein Temperament war damals schneller als mein Verstand, und meine Arbeit war letztlich im wahrsten Sinne des Wortes umsonst gewesen.
Im Nachhinein tat mir das leid, denn ich war ja gerade dabei, mein Geschäft aufzubauen. Mit der Zeit lernte ich dann, mein Temperament zu beherrschen und auch in derartigen Situationen nach Kompromissen zu suchen. Meine Kunden wurden mehr, und einige kamen mit weiteren Aufträgen immer wieder.
Wie habe ich das geschafft?
Diese Wandlung haben nicht etwa schlaue Bücher über wirtschaftliches Handeln bewirkt, sondern die Menschen, die manchmal völlig verzweifelt über Nacht eine Übersetzung brauchten und dann überglücklich mit dieser Übersetzung zum Amt laufen konnten. Sie brachten Geburts- und Sterbe-, Heirats- und Scheidungsurkunden, Diplome und wissenschaftliche Diplomarbeiten sowie alles, was noch so zum Leben gehört, in mein erstes kleines Büro. Und da meine Firma Übersetzungen in alle Weltsprachen vermittelte, kamen zu uns auch Menschen aus der ganzen Welt. Schicksale, Geschichten und Anekdoten erfüllten den kleinen Raum damals mit Freude und Kummer, Energie und Motivation und großen Hoffnungen …
So entwickelte sich das Standbein „Privatkunden“ bei Lingua-World, die wir bis heute sehr gerne bedienen. Und als wenig später das Standbein „Geschäftskunden“ aufgebaut wurde, hatte ich den neuen und jungen Mitarbeitern sehr viel über Kunden-Services zu erklären. Die Atmosphäre und die Wünsche, welche die einzelnen Personen als Privatkunden zu uns brachten, und die Erfüllung dieser Wünsche, waren schließlich auch die Basis für die Kundenzufriedenheit unserer Geschäftskunden. Diese Geschäftskunden kamen in der Regel zwar nicht in unsere Filialen, aber sie trugen ihre Anfragen, Wünsche und Aufträge via E-Mail und Telefon zu uns. Erfolg – wollten und sollten unsere Kunden haben und zwar in einem anderen Land. Ihr Text oder die mündliche Übertragung ihrer Worte sollte authentisch, fachlich korrekt und überzeugend sein. Es ist „nur“ eine Dienstleistung, die aber viel bewegen (oder verderben) kann. Die grenzenlose Kommunikation, die über unsere Schreibtische lief, eröffnete neue Wirtschaftsbeziehungen, neue Märkte und verhieß Arbeit für Menschen hier und in anderen Ländern.
Am Ende geht’s doch um die Menschen,
die hinter dem Wort „Kunden“ stehen. Am Ende geht’s um diejenigen, welche die Übersetzung lesen, verstehen und danach handeln. Ein Marketingtext z.B. muss nicht nur fachlich korrekt sein, sondern besonders auch emotional auf die Zielgruppe wirken. Und eine Produktbeschreibung sollte auch die kleinsten Details verständlich übertragen. Eine Software für die Herzchirurgie muss auf Grundlage der Übersetzung sicher und zweifelsfrei bedient werden können, und Kinderbücher sollten auch auf Haiti, in Nigeria und China verstanden werden. Kommunikation von Mensch zu Mensch, von Sprache zu Sprache – das möchten unsere Kunden, und wir wissen das.
Die Geschichte mit der weggeschmissenen Übersetzung ist in meinem Bewusstsein geblieben. Gut, dass sie am Anfang meiner Selbstständigkeit passierte. So habe ich früh genug verstanden, dass vor allem Vertrauen der Weg zu einem Kunden ist. Eine langfristige Beziehung zu einem Kunden aufzubauen erfordert Kontinuität und exzellenten Service – die Grundpfeiler des Vertrauens. „Der Kunde ist König“ ist keine Floskel! Wer Könige bedienen will, muss königliche Arbeit leisten. Eines Tages zahlt sich diese Mühe aus. Die Kunden kommen, und wenn sie bleiben, bilden sie die Kategorie „Stammkunden“. Das wertvollste Kapital eines Unternehmens.